Panel (In Person)

2.8: Agency in solidarischen Allianzen. Postmigrantische Zugänge

Keywords:
  • Postmigration
  • Agency
  • Krise
  • Solidarität

Chair: Caroline Schmitt (Sprecherin, Arbeitskreis Flucht, Agency und Vulnerabilität; Frankfurt university of applied sciences), Anett Schmitz (Sprecherin, Arbeitskreis Flucht, Agency und Vulnerabilität; Universität Trier)

Kriege und Krisen sowie die damit einhergehende zunehmende Anzahl an Menschen auf der Flucht prägen die Migrationsdebatten in Deutschland und der Europäischen Union (EU). Seit 2015 haben sich die Debatten immer mehr von einer damals noch wahrnehmbaren Willkommenskultur entfernt hin zu einem Ruf nach Abschottung und Abwehr von Menschen an den EU-Außengrenzen (Kleist/Göken 2017; Trauner/Turton 2017). Das Panel nimmt diese Diskursverschiebung zum Ausgangspunkt, um sich dezidiert mit hierzu differenten Zugängen auseinanderzusetzen, die über gesellschaftliche Spaltungs- und Abschottungsappelle hinausdenken und zu einem inklusiven gesellschaftlichen Zusammenleben beitragen möchten.

Das Panel verbindet postmigrantische (Bojadžijev 2012; Donlic/Yildiz 2023) und solidarische Perspektiven (Bauder 2019; Bude 2019; Susemichel/Kastner 2021), die Diversität und Ungleichheit in ihrem Potential zum Umgang mit Fluchtmigration und marginalisierten Personengruppen thematisieren, ohne dabei die inhärenten Ambivalenzen dieser Zugänge auszusparen. Im Vordergrund steht die Frage, wie kollektiv Agency-Prozesse auf lokaler und regionaler Ebene in Gang gebracht werden können, ohne den Nationalstaat und die EU aus der Pflicht zu entlassen, und wie menschenwürdige und menschenrechtliche sowie gesamtgesellschaftliche Lösungswege zum Umgang mit Fluchtmigrationsprozessen und flüchtenden wie irregularisierten Menschen gestaltet werden können.

Das Panel richtet seinen Blick auf agentative lokale und regionale Praxen in durch Diversität geprägten Regionen und Städten, in welchen Konzepte und Praktiken sichtbar werden, die etablierte Unterscheidungen in 'Einheimische' und 'Geflüchtete' durchbrechen und für inklusive, solidarische Lebensweisen einstehen.

Sprachen
  • Englisch

Engaged Pedagogy Across Borders?! Reflexionen solidarischer Praktiken im Kontext globaler Fluchtmigrationen im Dialog zwischen pädagogischen Akteur:innen aus Deutschland und der Türkei

Im Zentrum des Vortrags steht das Forschungs-Praxis-Projekt „Engaged Pedagogy Across Borders“ sowie ein hieraus hervorgehender transnationaler Dialog, der in den letzten Jahren zwischen Pädagog:innen, Wissenschaftler:innen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen aus Deutschland und der Türkei im Kontext aktueller Fluchtmigrationen geführt wurde. Dieser befasst sich insbesondere mit den folgenden Fragen: Inwieweit sind Diskurse und Praktiken der Marginalisierung und intersektionalen Diskriminierung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen im deutschen und türkischen Bildungssystem miteinander verwoben? Wie lassen sich diese Ausschlüsse analytisch erfassen sowie praktisch pädagogisch thematisieren und bearbeiten? Wie kann transnationale Solidarität im Sinne einer „Engaged Pedagogy Across Borders“ definiert und gestaltet werden? Vor welchen Herausforderungen stehen hierauf bezogene pädagogische Allianzen?

Im Vortrag werden Zwischenergebnisse dieses Dialogs präsentiert und in dessen Kontext thematisierte und verfolgte Praktiken des „Doing Solidarity“ nach ihren Ambivalenzen bzw. ihrer immanenten Dialektik von Inklusion und Exklusion (Taylor 2015) im EU-Grenzregime kritisch befragt. Vor diesem Hintergrund wird im Anschluss an bell hooks (2010) und Hannah Arendt (1993) ein Verständnis von pädagogischer Professionalität in der Migrationsgesellschaft als einer transnationalen Praxis entwickelt, die grenzüberschreitende Dynamiken der (Re-)Produktion von (Bildungs-)Ungleichheiten reflektiert und für die Gestaltung von pädagogischen Räumen produktiv macht.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt aus postmigrantischer Perspektive: Konviviale Alltagspraktiken und Artikulationsformen

Die Gesellschaft postmigrantisch zu denken, bedeutet zunächst, den eigenen Blick zu weiten und eine Perspektive einzunehmen, aus der historische und aktuelle Entwicklungen im globalen, nationalen und lokalen Kontext neu betrachtet werden (exemplarisch: Yildiz 2022; Foroutan 2019; Bojadžijev 2012; Donlic/Yildiz 2023). Die zentrale Idee ist, die Geschichte der Migration neu zu denken und eine andere Genealogie der Gegenwart zu entwerfen. Das bedeutet, die traditionelle Migrationsforschung aus ihrer Sonderrolle zu befreien und als kritische Gesellschaftsanalyse zu etablieren. Ein zentrales Anliegen dieses Vortrags ist es, die Geschichten und Perspektiven der nachfolgenden Generationen (hier als postmigrantische Generation bezeichnet) in den Fokus zu rücken, die zwar nicht selbst migriert sind, aber ihre familiären Migrationserfahrungen als persönliches Wissen und geteilte Erinnerung mit sich tragen und für ihre Lebensentwürfe und Positionierungen nutzen (vgl. Rotter 2023; Donlic 2024). Anhand der Artikulationen, Praktiken und Positionierungen von Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, lässt sich beispielsweise zeigen, wie sie Diskriminierungen, negative Zuschreibungen und gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen wahrnehmen, Umgangsweisen damit finden und kreative Lebensentwürfe entwickeln. Die Erkenntnisse zu Postmigration und Agency sollen mit partizipativen und performativen Methoden präsentiert werden. Durch die partizipative Einbindung in diese künstlerisch-performativen Prozesse können sie ihre Emotionen, ihre Erfahrungen, aber auch Herausforderungen und Teilhabe auf individuelle Weise darstellen. Dies stärkt nicht nur ihre Agency, sondern ermöglicht es auch anderen, sich mit ihren Erfahrungen und Geschichten auseinanderzusetzen.

Solidarische Städte, Inklusion und kollektive Agency. Explorationen am Beispiel der Züri City Card

Sich verschärfende globale Ungleichheiten machen ein inklusives Solidaritätsverständnis notwendig, das über Ländergrenzen, soziale Grenzziehungen und Partikulargruppen hinausreicht und die Fähigkeit kultiviert, das Gemeinsame mit anderen über einen unmittelbar geteilten Lebenszusammenhang hinaus zu sehen (Contipelli & Picciau 2020). Der Vortrag widmet sich der potenziell verbindenden und zugleich ambivalenten Gestalt von Solidarität und fragt danach, wo solidarische Verbindungen sichtbar und eingefordert werden (Stjepandić & Karakayali 2018; Bauder 2021) und wie in ihnen eine kollektive Agency entstehen, aber auch blockiert werden kann. Im Zuge des Forschungsprojekts "European Areas of Solidarity" (gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung; Team: Schmitt/Hill/Can/Hofmann) geben wir einen Einblick in eine solidarische Stadtallianz in Zürich, welche das Konzept eines urbanen Stadtausweises (Züri City Card) vor Ort umsetzt. Die Züri City Card zielt darauf ab, Zugehörigkeits- und Partizipationsmöglichkeiten irregularisierter Migrant*innen und marginalisierter Personen(-gruppen) im urbanen Raum zu fördern und einen Beitrag zur Etablierung einer „Stadt für alle“ (Lefebvre 1996) zu leisten. Auf Grundlage erster Forschungsergebnisse werden Möglichkeiten, Ambivalenzen und Herausforderungen dieser solidarischen Stadtbewegung und die Lebenswirklichkeiten irregularisierter Migrant*innen dargelegt sowie ihre Perspektiven und Wünsche in Bezug auf sich institutionalisierende Solidaritätskonzepte erläutert. Der Vortrag verweist am exemplarischen Beispiel auf die Notwendigkeit grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen (Lessenich, 2020; Kollender & Kourabas, 2020) im Umgang mit irregularisierter Migration.

Solidarische Praktiken in Bildungsräumen – Eine Fallstudie zur Aushandlung von Solidarität in formaler und non-formaler Bildung in Chemnitz

Die Relevanz der Solidarität wurde seit dem langen Sommer der Migration (wiederholt) intensiv diskutiert (Freuwört et al., 2024). Ein Beispiel stellt das zunehmende Interesse an Solidarity Cities innerhalb der Migrationsforschung dar. Dennoch wurden, wie Eble (2022) argumentiert, sozialkritische und emanzipatorische Themen wie Solidarität im Bereich der Erziehungswissenschaft bisher vernachlässigt. Verschiedene Studien konnten indes die Relevanz von (in)formellen Bildungsakteur*innen für die Etablierung einer „urbanen Infrastruktur der Solidarität“ (Schilliger, 2022) hervorheben.

Basierend auf einem Verständnis von Solidarität als abhängig von sozialen, gesellschaftlichen und historischen Kontexten (Kewes, 2021), vielschichtig und multidimensional (Bauder & Juffs, 2019) sowie Praxis sozialer Gerechtigkeit (Castro-Varela & Heinemann, 2018), untersucht dieses Projektvorhaben die Aushandlungen solidarischer Praktiken mit und für Geflüchteten und Migrant*inne in formellen und non-formellen Bildungsräumen im Bundesland Sachsen. Als Fallstudie (Yin, 2013) konzipiert, wird die sächsischen Großstadt Chemnitz, als ideales Untersuchungsgebiet aufgrund ihrer widersprüchlichen Charakterisierung fokussiert. Einerseits zeichnet sich Chemnitz als (post)migrantische Universitätsstadt und Kulturhauptstadt 2025 durch eine weltoffene Ausrichtung, mit zahlreichen Bildungsinitiativen zur Förderung von Diversität und Solidarität aus. Andererseits zeigen sich Tendenzen einer apolitischen Haltung in der gesellschaftlichen Mitte, welche rechtspopulistischen Stimmen den öffentlicher Raum überlässt (Brichzin et al., 2022).

Um das Forschungsinteresse zu beantworten, wird ein ethnographischer Ansatz (Knoblauch, 2019) gewählt, welcher teilnehmende Beobachtungen in verschiedenen (non)formellen Bildungsräumen sowie Gruppendiskussionen und Narrative Interviews umfasst. Die ethnographisch erhobenen Daten, werden durch die Analyse relevanter bildungspolitischer Dokumente ergänzt. Es wird erwartet, eine Vielzahl divergierender solidarischer Praktiken in Bildungsräumen zu identifizieren, die Aspekte kollektiver Agency einschließen.