Interview mit Chris Dolan (Direktor, Refugee Law Project, Uganda)

Frage 1: Das Projekt „Flucht- und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer“ zielt u.a. darauf ab, die Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland zu internationalisieren und somit zu der Weiterentwicklung internationaler Forschungsnetzwerke beizutragen. Wie relevant ist die Internationalisierung von Flucht- und Flüchtlingsforschung - und wofür ist sie relevant?

Dolan: Während die Zahl an Geflüchteten weltweit weiterhin exponentiell zunimmt, entwickeln sich die Motive, die dieser Migration aus Angst, Verzweiflung und Hoffnung zugrunde liegen, ständig weiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Richtung der Flucht weitgehend politisch bestimmt, und dies spiegelt sich in den rechtlichen Rahmenbedingungen wider, die zu dieser Zeit geschaffen wurden. In der Welt nach dem Kalten Krieg begann sich dies grundlegend zu ändern, mit einer entsprechenden Schwerpunktverlagerung von der Gewährung von Asyl zu einer Sorge um Eindämmung, einer Sorge, die mit immer hässlicheren Bestrebungen verbunden ist, Asylsuchende daran zu hindern, überhaupt die Küsten Europas zu erreichen.

Frage 2: In Deutschland fängt die Flucht- und Flüchtlingsforschung erst an, sich als Forschungsfeld zu etablieren. Dasselbe gilt für die meisten europäischen Länder, mit der bemerkenswerten Ausnahme Großbritanniens. Sie leben und arbeiten in Uganda, einem der bedeutendsten Aufnahmeländer von Flüchtlingen in Afrika und weltweit. Was ist der Stand der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Uganda – und in Afrika im Allgemeinen?

Dolan: Der Hochschulsektor in Uganda ist in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen, und das inländische Studium der Flucht- und Flüchtlingsforschung ist zweifellos im Kommen, obwohl das Potential und der Drang nach weiterem Wachstum groß sind. Auf dem gesamten Kontinent gibt es eine Reihe von Zentren, die sich auf Flucht- und Flüchtlingsforschung spezialisiert haben, so z.B. die Wits University in Südafrika, die Universitäten Moi und Kenyatta in Kenia, das Refugee Law Project und Uganda Martrys University in Uganda, die American University in Ägypten und die University of Dar Es Salaam in Tansania.

Der relative Mangel an solchen Zentren rührt teilweise daher, dass Flucht- und Flüchtlingsforschung weitgehend aus einer humanitären Perspektive betrachtet werden, die dazu neigt, sich auf sehr unmittelbare Herausforderungen zu konzentrieren und nicht auf die zugrunde liegenden Ursachen und Dynamiken – und die damit verbundenen disziplinären Rahmenbedingungen. In Uganda liegt es auch daran, dass, obwohl dort viele Menschen ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Flucht gemacht haben, es nur wenige ugandische Forscher mit einer Expertise in Flucht- und Flüchtlingsforschung gibt. Flüchtlinge, die von einem Studium der verschiedenen Ansätze der Flucht- und Flüchtlingsforschung profitiert haben, gibt es noch weniger. Dies ist zum Teil Ausdruck der Befürchtungen im Globalen Norden, dass, wenn dort zu viele Studenten aus dem Globalen Süden angenommen werden, diese versuchen könnten als ewige Studenten zu bleiben, anstatt in ihre Herkunftsländer zurückzukehren.

Wie viele ehemaligen Kolonien wird Uganda eher als Standort für Feldforschung und Fallstudien bevorzugt, die zwar von ‚lokalen Partnern‘ ermöglicht aber von Universitäten mit Sitz im Globalen Norden angeregt, durchgeführt, geleitet und verantwortet werden. Es ist die unglückliche Realität, dass bei solchen Projekten Ugander*innen und Flüchtlinge mit Forschungserfahrung eher als Forschungsassistenten denn als leitende Forscher*innen oder Partner*innen eingesetzt werden, anstatt eine starke Flucht- und Flüchtlingsforschungsbasis in dem zu untersuchenden Land zu haben oder aufzubauen. Die höchst unbequeme und politische Geschichte des „einheimischen Informanten“ ist damit noch lange nicht zu Ende.

Frage 3: Haben Sie Ratschläge für europäische Forscher, die in der Flucht- und Flüchtlingsforschung mit afrikanischen Partnern zusammenarbeiten wollen? Was sind entscheidende Aspekte, die sie beachten sollten?

Dolan: Es besteht die Tendenz, unser Denken über „Forschung“ auf eine Diskussion über bestimmte Methoden der Datenerhebung und -analyse zu reduzieren. Doch in Wirklichkeit lässt sich die Untersuchung von Zwangsmigration und Flüchtlingen nicht von den komplexen Dynamiken und Kontexten trennen, die solche Fluchtbewegungen hervorrufen und aufrechterhalten. Die Fähigkeit, fundierte und angemessene methodologische Entscheidungen zu treffen setzt voraus, dass man diese versteht.

Für die Flucht- und Flüchtlingsforschung ist es zweifellos eine Bereicherung, wenn Menschen, die selbst Fluchterfahrungen gemacht haben, aktiv an der Mitgestaltung der Forschungsagenda und aller Phasen der Umsetzung beteiligt sind. Hinzu kommt, dass die Entwicklung kritischer Forschungskapazitäten in so genannten „Entsendeländern“ selbst ein ethischer Beitrag dazu sein, Nord-Süd Ungleichgewichte zu verringern, den Druck zur Zwangsmigration für Vertreter*innen aus dem Süden zu mindern und ein ungerechtfertigtes Anspruchsdenken bei Vertreter*innen aus dem Norden abzubauen.

Die stärksten Forschungspartnerschaften werden daher diejenigen sein, bei denen europäische und afrikanische Forscher*innen wo immer möglich Seite an Seite arbeiten. Solche Teams werden gemeinsam eine Strategie für den effektivsten Einsatz der jeweiligen technischen, sozialen, kulturellen und politischen Fähigkeiten und Beiträge ihrer Mitglieder für die jeweiligen Forschungsprojekte entwickeln, einschließlich einer gemeinsamen Strategie zur Verbreitung der Ergebnisse.

Projektanträge für solche Partnerschaften sollten ganz bewusst Raum für Prozesse vorsehen, bei denen alle Teilnehmer*innen ihre Lebensläufe durch wissenschaftliche Forschung bereichern können. Zumindest sollten z.B. afrikanische Teammitglieder zusammen mit ihren Kolleg*innen Feldforschung betreiben, um die Realitäten besser zu verstehen, mit denen sich Geflüchtete, die es nach Europa geschafft haben, konfrontiert sehen.

Frage 4: Sollte der Schwerpunkt der Internationalisierung von Flucht- und Flüchtlingsforschung auf dem globalen Phänomen der Flucht aus deutscher Sicht, dem Phänomen der Flucht in Deutschland aus globaler Sicht oder beidem liegen?

Dolan: Die Aufnahme von mehr als einer Million syrischer Flüchtlinge durch Deutschland und Deutsche ist beispiellos in Europa in den letzten Jahrzehnten. Wie sie sich entwickelt – von der Untersuchung individueller Erfahrungen mit Integration und/oder Ausgrenzung auf der Mikroebene bis hin zu den Auswirkungen auf internationaler Ebene auf die Innenpolitik des Landes und seinen Platz in der Europäischen Union – ist für die gesamte Welt von Bedeutung. Gleichzeitig sollten globale Fluchtphänomene bei der Weiterentwicklung der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland nicht an zweiter Stelle stehen. Nur durch ein gründliches Verständnis dieser globalen Ströme kann sich Deutschland in der sich ständig weiterentwickelnden globalen Landschaft wirklich positionieren, denn – ob Menschen tatsächlich internationale Grenzen überschreiten oder nicht – die Ursachen und Auswirkungen ihrer Flucht erkennen keine nationale Souveränität an.

Dr. Chris Dolan hat den größten Teil seines Arbeitslebens in Afrika südlich der Sahara verbracht und sich mit Fragen der Zwangsmigration, Konflikten und Gender beschäftigt. Seine Forschungsarbeit mit mosambikanischen Flüchtlingen in Südafrika trugen zur Einrichtung des Forced Migration Studies Programme an der Wits University in Johannesburg bei. Seine umfangreiche Feldforschung mit Binnenvertriebenen (IDPs) während des Krieges im Norden Ugandas und der Regierung der Lord Resistance Army in den späten 1990er Jahren führte zu seiner Promotion an der London School of Economics und zu seinem ersten Buch „Social Torture“. Er lehrte Flüchtlingsforschung in Oxford und anderen Universitäten. Im Jahr 2006 kehrte er nach Uganda zurück und hat seitdem als Direktor des Refugee Law Project an der juristischen Fakultät der Universität Makere dieses zu einem führenden regionalen Zentrum für Rechtswesen und Zwangsmigration aufgebaut. Dabei hat er zahlreiche Forschungspartnerschaften mit Universitäten im Vereinigten Königreich, Irland, Schweden, den USA und Kanada ins Leben gerufen. Er ist auch Gastprofessor an der Ulster University in Nordirland.

Die Fragen stellte Jörn Grävingholt.